aus: FMG-INFORMATION 91, April 2007

 

Ist der sogenannte Hirntod der Tod des Menschen?

 

In der FMG-INFORMATION 87 (Dezember 2005) hatten wir unter dem Titel „‚Hirntod’ ist nicht Tod!“ einen Essay von einer Tagung der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften vom Februar 2005 wiedergegeben, in dem die gewaltige Problematik von Organtransplantationen aufgezeigt wurde, wenn es sich um sog. unpaarige Organe handelt, weil dazu die Organe einem noch lebenden Körper entnommen werden müssen, der daran stirbt. Unsere Übersetzung des Essays ist auch in einer Schrift der „Aktion Leben e. V.“, Abtsteinach, erschienen.

In der Zeitschrift „Theologisches“ war im Januar/Februar 2006 ein Artikel von Prof. Dr. Charles Probst veröffentlicht, auf den hin wir den Herausgeber, Dr. Dr. David Berger, baten, doch den Essay dort abzudrucken. Er verwies darauf, dass er nur Erstveröffentlichungen in seine Zeitschrift aufnähe, erklärte sich aber bereit, einen Originalbeitrag eines Wissenschaftlers als Replik zu bringen. Wir konnten dann Universitätsprofessor Dr. theol. Manfred Balkenohl dafür gewinnen, einen Laien und Familienvater, der unter anderem im Fachbereich Katholische Theologie an den Universitäten Osnabrück und Vechta Moraltheologie lehrte und Autor zahlreicher moraltheologischer, sozialethischer und anthropologischer Veröffentlichungen ist. Sein Aufsatz war in „Theologisches“, Januar/Februar 2007, veröffentlicht. - Wir möchten seine Ausführungen, die nicht direkt auf den erwähnten Artikel in „Theologisches“ Bezug nehmen, sondern vielmehr die Problematik der neuen Todesdefinition „Hirntod“ sehr umfassend aufzeigen, nun gerne auch in der FMG-INFORMATION wiedergeben, auch wenn die verwendeten wissenschaftlichen Begriffe teilweise etwas mühsam sein mögen.

Doch das Thema ist zu wichtig. So war in einem Münchner Krankenhaus erst vor kurzem eine für die Organspenden werbende Ausstellung zu sehen, auf deren Schautafeln unter anderem - mit Papstfoto - eine Meldung einer italienischen Zeitung von 1999 angeführt wurde, laut der Kardinal Ratzinger sich geäußert hatte, er besitze einen Organspenderausweis; ferner wurde aus der „Gemeinsamen Erklärung der Kirchen“ (Hannover/Bonn 1999) zitiert: „Aus christlicher Sicht ist die Bereitschaft zur Organspende nach dem Tod ein Zeichen der Nächstenliebe und Solidarisierung mit Kranken und Behinderten“. – Ja: „nach dem Tod“. Aber die Ausstellung und alle Befürworter der Organspenden unterstellen, der sogenannte Hirntod sei der wirkliche Tod. Die folgende Darlegung zeigt erneut auf, dass dies nicht zutrifft!

 

Manfred Balkenohl

 

Der Hirntod – Zur Problematik einer neuen Todesdefinition

 


In der Diskussion um das Hirntodkonzept und der damit verbundenen Entnahme lebenswichtiger Organe für die Transplantation sind seit dem letzten Jahrzehnt zwei gegenläufige Lemmata zu beobachten. Zum einen wird auch wegen der immensen finanziellen Bereitstellungen weiterhin und z. T. sogar verstärkt transplantiert. Zum anderen wächst, auch und gerade interdisziplinär, mit zunehmender Deutlichkeit die Erkenntnis, dass eine neue, biotechnisch inspirierte Qualität der medizinischen Definitions- und Deutungsmacht den Menschen in seinen grundlegenden Lebensfunktionen geradezu verkennt.[1]

In diesem Dilemma befinden wir uns, wenn wir das Hirntodkonzept mit Blick auf die das Leben kennzeichnenden Merkmale betrachten.

 

Wie kam es zu der Definition Hirntod?

Von der Öffentlichkeit lange Zeit unbemerkt, war in der Medizin eine neue Todesdefinition hinzugekommen. Nicht mehr allein der irreversible Stillstand der Herz- und Atmungstätigkeit, sondern ebenfalls eine „schwere Hirnschädigung“ bei aufrecht erhaltener Funktion des Herzens und der Atmung wurde unter bestimmten Bedingungen als Tod des Menschen deklariert. Die sogenannte Hirntod-Definition ist neueren Datums. Einer der ersten, der sich aus anthropologischer und ethischer Perspektive mit der Problematik dieses Begriffes befasst hat, war Hans Jonas. Er bezieht sich zunächst auf einen Bericht über die Definition des Hirntodes, den im August 1968 eine hierzu eingesetzte Kommission der Harvard Medical School veröffentlicht hatte. Das Harvard-Gutachten „definierte irreversibles Koma als Gehirntod, wenn folgende diagnostischen Merkmale vorliegen: 1. Abwesenheit jeder feststellbaren Gehirntätigkeit (flaches Elektroenzephalogramm) und jeder gehirnabhängigen Körpertätigkeit wie spontane Atmung und Reflexe; 2. Er setzt den so definitierten Gehirntod gleich mit dem Tode des ganzen Leibes, also des Patienten, was außer der amtlichen Todeserklärung den Abbruch aller künstlichen Funktionshilfen durch Atmungsgerät und sonstige Erhaltungsmaßnahmen erlaubt - sowie unabhängig davon (also mit oder ohne solchen Abbruch) die Entnahme von Organen für Transplantationszwecke: Der dies freistellende Leichnamstatus des Leibes beginnt mit der Feststellung des Gehirntodes als solchen.“[2]

Es geht also darum, das bis dahin „irreversible Koma“ als neue Definition des Todes anzuerkennen mit dem Ziel, den Leichnamstatus des Leibes zu erreichen mit allen daraus erwachsenden pragmatischen Konsequenzen. Mit anderen Worten geht es also darum, „den Zeitpunkt der Toderklärung vorzuverlegen: die Erlaubnis nicht nur, die Lungenmaschine abzustellen, sondern nach Wahl auch umgekehrt sie (und andere „Lebenshilfen“) weiter anzuwenden und so den Körper in einem Zustand zu erhalten, der nach älterer Definition Leben gewesen wäre (nach der neuen aber nur dessen Vortäuschung ist) - damit man an seine Organe und Gewebe unter den Idealbedingungen herankann, die früher den Tatbestand der Vivisektion gebildet hätten.“[3]

Es sind vor allem zwei pragmatische (zweckhafte) Ziele, die im Gegensatz zur traditionellen Todesbestimmung im Vordergrund stehen. Zum einen möchte man Angehörige, Patienten, Mediziner und Pflegekräfte nicht mehr die Last eines irreversiblen Komas aufbürden, zum anderen möchte man transplantieren. Eine Neudefinierung des Todes erreicht beides. Wenn man sagt, der Mensch sei tot, braucht man ihn nicht mehr als Lebenden zu pflegen und zu versorgen. Und man kommt durch Definitionsmacht an seine Organe heran, ohne dass ein Staatsanwalt wegen einschlägiger Delikte tätig werden müsste.

 

Macht und Herrschaft des Menschen über den Menschen

Die absolute Herrschaft des Menschen über den Menschen ereignet sich in unserer Zeit also auch und gerade durch Definition. Denn wenn der Tod neu definiert worden ist und die entsprechenden Formalitäten erfüllt sind, ist der komatöse Patient plötzlich - und zwar durch Unterschriften - kein Patient mehr, sondern ein Leichnam. Ihm ist der Leichnam-Status nicht nur zugestanden, sondern aufgezwungen, aufoktroyiert worden. Der mit Ausnahme des geschädigten Gehirns gut funktionierende Organismus ist für tot erklärt worden. Der Patient konnte sich wegen seines ultrakomatösen Zustandes nicht dagegen wehren. Mit ihm wird und wurde verfahren.

Nun kann aber eine Definition nicht das ersetzen, was an Wissen nicht vorhanden ist. Es ist im ursprünglichen Sinne des Wortes arrogant, ohne tieferes Nachfragen, aus Unkenntnis also, etwas festzusetzen und festzuschreiben, was sich schlicht der Erkenntnis entzieht.

 

Fiktion statt gültiger Definition

Eigentlich sollte eine Definition (lat. Abgrenzung) eine eindeutige Bestimmung eines Sachverhaltes oder einer Wortbedeutung sein, ausgedrückt in größtmöglicher Klarheit, Vollständigkeit und Kürze. Eine Definition sollte realistisch sein, indem sie Wesensmerkmale des zu Definierenden unmissverständlich gegenüber allen andersgearteten Gegenständen abgrenzt. Eine Definition sollte eine echte und angemessene Wesenserfassung über die Wahrheit eines Sachverhaltes oder Vorganges ermöglichen, also eine wirkliche Einsicht in das Wesen der zu erklärenden Sache schaffen.

Bei der Definition „Hirntod“ ist aber das Gegenteil der Fall. Es wird keine Klarheit über das Wesen einer Sache erreicht, sondern es wird per definitionem Verschleierungs- und Verdunkelungstaktik betrieben zum Zwecke der Durchsetzung eigener Interessen. Man setzt formal das Mittel einer Definition ein. Unkritische Leser vermeinen nun, das Wesen einer Sache sei unzweideutig angegeben. In Wirklichkeit aber will man etwas anderes erreichen. Die Definition Hirntod erweist sich somit als Nebelkerze.

 

Feststellung des Todes

Nun gehörte es bislang jedenfalls zur Aufgabe der medizinischen Wissenschaft und der ärztlichen Praxis, Kriterien und den Zeitpunkt des Todes zu bestimmen. Das war in der Vergangenheit weltweit einheitlich unumstritten und ohne erhebliche Kontroversen möglich. Man definierte, wie oben angedeutet, den Tod nach dem irreversiblen Stillstand der Herz- und Atmungstätigkeit und damit auch der Gehirnfunktionen. Will man sich aber heute zum Beispiel anhand eines einschlägigen medizinischen Wörterbuches in dieser Hinsicht informieren, dann stößt man alsogleich auf Schwierigkeiten. Im „Pschyrembel“[4] etwa hat der Terminus „Hirntod“ längst Einlass gefunden.

Unter „Hirntod“ heißt es hier: „(engl.) brain death; Tod des Individuums durch Organtod des Gehirns; irreversibler Ausfall aller Hirnfunktionen bei evtl. noch aufrechterhaltener Kreislauffunktion; Voraussetzungen für die Feststellung des H.: Vorliegen einer schweren Hirnschädigung u. hochwahrscheinlicher Ausschluss einer reversiblen Störung der Hirnfunktionen od. von Bewusstseinsstörungen bekannter Ursachen, z. B. nach Vergiftungen ...“[5]

Das Augenmerk ist vor allem zu richten auf den Terminus: „Vorliegen einer schweren Hirnschädigung“. In der 254. Auflage dieses Wörterbuches war noch von „Teilhirntod“ die Rede. In den neueren Auflagen entfällt unter „Koma“ der Unterbegriff „irreversibles Koma“. Das „Vorliegen einer schweren Hirnschädigung“ wird hier also dem Terminus „Hirntod“ zugrunde gelegt. Es kommt noch hinzu, dass der „Hirntod“ in der ganzen Welt keineswegs einheitlich definiert wird. Auch daher werden ethische Fragestellungen unumgänglich.

 

Einheitlicher Todesbegriff?

Heute gibt es auch und gerade im medizinischen Bereich keine einheitliche Definition des Todes. Die Literatur weist weltweit über 300 verschiedene Hirntoddefinitionen auf. Der gegenwärtige Expertenstreit spiegelt sich in der Praxis auch dadurch wieder, dass unterschiedliche Interessen immer wieder zu einander divergierenden Definitionen führen.

Von „Apallikern“ oder „dauerhaft Vegetativen“ spricht man häufig dann, wenn in diesen Patienten irreversible Pflegefälle erblickt werden, von „Wach-Koma-Patienten“, wenn die Möglichkeit einer Genesung ins Auge gefasst wird. Unter dem Gesichtspunkt, dass zum Zwecke der Organtransplantation mehr Tote hermüssen, erklärt man solche Patienten gern als „Teilhirntote“. In diesem Sinne wird in den USA z. B. (John Fletcher) die Ausdehnung der Todesdefinition auf „Großhirntote“ gefordert.

Auch die jährlich rund 600 in Deutschland geborenen „anenzephalen“ Säuglinge, die in Wahrheit eine erhebliche Schädigung oder Verkümmerung des Großhirns aufweisen, haben in Anwendung der Hirntod-Definition niemals gelebt und dürfen nach Auffassung einer Reihe von Experten zum Zwecke der Organtransplantation verwendet werden. Man argumentiert in einer plausibel klingenden, aber nichtsdestoweniger verhängnisvollen Weise: Wenn es denn als erlaubt gilt, die Organe „Hirntoter“ zum Zwecke der Transplantation zu explantieren, dann dürfe man auch solche Kinder verwenden, die angeblich niemals ein Gehirn gehabt hätten bzw. ebenfalls hirntot seien.

Interessant ist indessen, dass man sich bei dergleichen Vorgängen um ethische Rechtfertigungen bemüht, die man dann im Vergleich zu anderen Vorgängen heranzieht.

Was aber insgesamt auffällt, ist der Tatbestand, dass der Todesbegriff selbst in der Medizin nicht mehr einheitlich festgestellt werden kann und dass es anstelle einer gültigen Definition diesbezügliche willkürliche Setzungen gibt. Bei solcher schon allgemein gewordenen Unsicherheit, Liberalisierung und Individualisierung ist schon gefordert worden, es möge doch jeder gefälligst selber festlegen, wann er denn tot sei. So grotesk das klingen mag: Tatsächlich machen Mediziner der University of Pittsburg den Vorschlag, in Anbetracht der Unsicherheit bei den Ärzten solle doch jeder bei Lebzeiten selbst bestimmen, wann er als tot gelten möchte: Bei Ausfall der Herz- und Atmungstätigkeit (klassischer Tod), bei starken Beeinträchtigungen des Gehirns (Hirntod) oder wenn sein Bewusstsein längere Zeit nicht wiederkehrt (irreversibles Koma).

Bei dieser Lage, in der wir uns befinden, ist aber die eingangs gestellte Frage durchzuhalten, ob heute wirklich die Medizin allein die maßgebende Instanz sein kann, um Leben oder Tod eines Menschen festzustellen, oder ob bei der gegenwärtigen Verwirrung ethische und theologische Instanzen mahnend und korrigierend eingreifen müssen, um der Wirklichkeit des Menschlichen gerecht werden zu können.

Immerhin ist in der Ausbildung der Mediziner seit langem das Philosophikum durch das Physikum ersetzt worden. Und es ist evident, dass man nicht leben und gleichzeitig tot sein kann. Beschwichtigend hört man sagen: „Die Fähigkeit, Leben und Lebenszeichen festzustellen, ist bei Medizinern unterschiedlich ausgeprägt.“ Mit solchen Hinweisen, die sicherlich zutreffen, ist aber die Problematik, in der wir uns befinden, keineswegs gelöst. Wohl kann man Menschen zu Tode definieren, aber in Wahrheit ist bis heute an einer Definition noch niemand gestor­ben.

 

Grenze zwischen Leben und Tod

Die Grenze zwischen Leben und Tod festzusetzen, ist nun einmal ein schwieriges Kapitel. Es gibt beim beginnenden wie beim erlöschenden Leben von Menschen schwer zu erhellende Geheimnisse.[6] Warum soll denn eigentlich der komatöse Patient, dessen Herz- und Atmungstätigkeit künstlich unterstützt werden, kein Leben mehr haben, also tot sein? Nur darum, weil die aus keineswegs abgesicherter Fachliteratur eruierbaren Kriterien für den Eintritt des Hirntodes als gegeben erscheinen? Bei der Elektroenzephalographie z. B. soll eine isoelektrische Linie (Nullinie) bestehen.[7] Ganz am Rande sei noch erwähnt, dass Tiere im Winterschlaf ebenfalls eine isoelektrische Nulllinie aufweisen können. „Das EEG eines Murmeltiers im Winterschlaf signalisiert Hirntod“, sagt Walter Arnold, Leiter des Forschungsinstituts für Wildtierkunde und Ökologie der Veterinärmedizinischen Universität Wien.[8]

Das Leben von Menschen auf messbare Hirnströme zu reduzieren, ist von vornherein anthropologisch fragwürdig, ja unstatthaft, u. a. darum, weil der ganze Mensch als Geist-Seele-Leib-Einheit nicht mehr wahrgenommen wird. Und es kommt auch, am Rande gesagt, noch hinzu, dass die Apparate, welche die Hirnströme messen (EEG), nicht von Medizinern, sondern von Elektronikern hergestellt worden sind. Mediziner, die mit dieser Technik umgehen, müssen sich auf all das verlassen, was Elektroniker vorgeben. Mediziner sind also insofern durchaus fremdgesteuert - übrigens hinsichtlich der Pharmazie ebenfalls.

Elektroniker aber sind es heute u. a. auch, welche auf die grundsätzliche Unzuverlässigkeit von Apparaten aufmerksam machen und vor allem darauf, dass heute vieles messbar ist, was vor kurzem elektronisch noch nicht wahrgenommen werden konnte. Es kann mehr als vermutet werden, dass zahlreiche Menschen zum Zwecke der Organtransplantation zu Tode definiert worden sind; auch darum, weil elektronische Apparate gewünschte (oder auch nicht gewünschte!) Hirnströme noch nicht aufzeichnen konnten. Und noch ein Gesichtspunkt sollte erwähnt werden. Bevor Apparaturen dieser Art als Massenprodukte in Krankenhäusern und Arztpraxen zur Anwendung kommen, haben sie eine lange Zeit der Entwicklung hinter sich. Und was heute in solchen Apparaten noch nicht messbar ist, das ist nach Angaben von Elektronikern in elektronischen La­boratorien schon längst messbar. Bei sogenannten „Hirntoten“ sind Hirnströme messbar.

Das bestechende, aber nichtsdestoweniger fragwürdige Argument, dass der Mensch nur dann lebe, wenn elektronisch wahrnehmbare Hirnströme nachweisbar seien, dieses Argument wird heute in immer umfangreicher werdender Fachliteratur entkräftet und widerlegt.[9] Es kommt noch hinzu, dass bei Messung durch die Nase plötzlich all das wieder messbar wird, was vorher unmöglich schien. Auch werden im Moment der Entnahme der Organe zum Zwecke der Transplantation für eine kurze Zeit all die bislang vermissten Ströme wieder messbar, und der sonst normale Blutdruck des „Hirntoten“ steigt erheblich an. Ebenfalls gibt es glaubwürdige Berichte darüber, dass der Hirntote bei beginnender Explantation die Augen öffnen kann. Daher wird das Gesicht oftmals abgedeckt, um Pflegekräfte etwa nicht zu irritieren.

Darüber hinaus kennt der Insider grundsätzlich und in jedem Einzelfall die Unzuverlässigkeit von Apparaten. Außerdem misst die Elektroenzephalographie nur die elektrische Tätigkeit von der Oberfläche des Gehirns. „Von Patienten, die ein isoelektrisches Elektroenzephalogramm (Nullinie) gehabt haben, weiß man, dass sie wieder genasen.“[10]

Selbst wenn es möglich wäre, menschliches Versagen im medizinischen Bereich auszuschließen, so mag doch niemand für die Zuverlässigkeit von Apparaten zu garantieren. „Der Patient muss unbedingt sicher sein, dass sein Arzt nicht sein Henker wird und keine Definition ihn ermächtigt, es je zu werden. Sein Recht zu dieser Sicherheit ist unbedingt; und ebenso unbedingt ist sein Recht auf seinen einen eigenen Leib mit allen seinen Organen. Unbedingte Achtung dieses Rechtes verletzt keines anderen Recht. Denn niemand hat ein Recht auf eines anderen Leib. - Um noch in einem anderen, religiösen Geist zu sprechen: Das Verscheiden eines Menschen sollte von Pietät umhegt und vor Ausbeutung geschützt sein.“[11]

 

Die Achtung vor dem menschlichen Leben

Und es muss ebenfalls angemerkt werden, dass aus christlicher Perspektive niemand das Recht hat, über seinen eigenen Leib willkürlich zu verfügen.

Ein Beispiel möchte ich erwähnen: Als ich auf einer Vortragsreise zum Thema „Die Achtung vor dem menschlichen Leben“[12] unterwegs war, wurde ich nach einem Vortrag in der Diskussion mit eben solchen Fragen hinsichtlich der Grenzlinie zwischen Leben und Tod befragt. Im Verlauf der Aussprache meldete sich eine Operationsschwester mit langjähriger Berufserfahrung zu Wort, nannte ihren Namen, ihre Anschrift und ihre ehemalige Arbeitsstelle. Sie teilte mit, dass ein Patient auf Organe eines „Hirntoten“ gewartet habe. Die Transplantation habe noch nicht stattfinden können, weil eine Infektion bei dem aufnahmebereiten Patienten aufgetreten sei. Man habe also warten müssen. In dieser Zwischenzeit nun sei der „Hirntote“ erwacht. Er lebe heute gesund im Ort X., Name und Anschrift des ehemals „Hirntoten“ wurden öffentlich mitgeteilt.

Nun mag dieses Beispiel Seltenheitswert besitzen, es ist aber nicht das einzige dieser Art. Im deutschen Fernsehen sind bereits etliche ehemalige „Hirntote“ und deren Angehörigen zu Wort gekommen. Zunehmend macht der kritische Journalismus auf solche Vorgänge aufmerksam. Vor nicht langer Zeit ist ein hirntot geschriebener 21jähriger Amerikaner namens John Martin im Marin General Hospital im kalifornischen Greenbrae nach zehn Tagen erwacht. Julie Christine wachte am Bett ihres Sohnes, als dieser einige Stunden nach dem Ausschalten der Geräte plötzlich die Augen öffnete und mit den Worten „ich liebe dich“ die Hände seiner Mutter ergriff. Die Beerdigung ihres Sohnes hatte sie bereits vorbereitet. Nicht nur die Angehörigen, sondern ebenfalls die Ärzte zeigten sich mehr als überrascht.[13]

Trotz solcher sich mehrender Berichte mag aber im allgemei­nen die Realität so aussehen, dass der als hirntot definierte, irreversibel komatöse Patient nicht wieder zum Bewusstsein kommt. Aber darf der Körper in diesem Fall als Organbank dienen? „Nur Geier und Schakale fallen sofort darüber her“, vermerkt Willi Geiger, Senatspräsident a.D. am Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsrichter a.D..[14] Es gibt nicht nur das Grundrecht auf Leben, sondern auch und insbesondere „das Grundrecht auf willkürfreie Behandlung.“[15]

Durch die heute immer weiter ausgreifenden Explantationen von Organen unter bewusster Ausnützung der Verwischung der Grenzen zwischen Leben und Tod des Spenders, und zwar dadurch, dass man ebenfalls bewusst und manipulativ den definitorischen Übergang von der Feststellung des irreversiblen Komas zur Feststellung des Hirntodes vollzieht, auch dadurch betätigt sich heute keineswegs eine humane, jedenfalls aber eine technisierte Medizin. Komatöse Patienten, die kraft Definition als tot gelten, gelten nun ebenfalls definitiv nicht mehr als Patienten, sondern als Leichname, mit denen all das angestellt wird, was als erlaubt gilt und wozu das Forschungs- oder Transplantationsinteresse drängt. Es entwickelt sich eine Eigendynamik des Machbaren. Und weil die Industrie des Körpers und am Körper unaufhaltsam expandiert, übt das Faktische eine normative Kraft aus. So berufen sich Spezialisten darauf, dass anderswo ebenso verfahren werde und dass dadurch ihre Handlungen gerechtfertigt seien. Der ultrakomatöse Patient hat weitgehend keine Chance mehr zu leben, er ist zu einer „postmodernen Leiche“[16] geworden. Der gegenwärtige Transplantationsrausch, um nicht zu sagen die Transplantationswut, ist übermächtig geworden.

 

Lebensfunktionen von „Untoten“

„Es ist kein Zweifel, dass wir es beim Hirntod noch mit einem lebenden Organismus zu tun haben. 97 Prozent des Organismus sind beim Hirntod noch lebendig. Es ist eine metaphorische Leistung, in solch einer Situation doch vom Tod des Gesamtorganismus reden zu wollen ...“ resümiert Detlev B. Linke[17], Professor für Klinische Neurophysiologie und Neurochirurgische Rehabilitation.

Vermutlich sind sogar beim sog. Hirntod doch weit mehr als 97 % des Organismus noch lebendig. Mit großer Sicherheit hat auch das totgesagte Gehirn noch die Qualität des Lebendigen, denn ein Leichenteil im Organismus würde dessen baldigen Tod verursachen. Es sind lediglich beschreibbare Funktionen nicht mehr wahrnehmbar und messbar.

So gibt es bei „Hirntoten“ das sog. Lazarus-Syndrom, worunter man versteht, dass der Totgesagte die Krankenschwester etwa umarmt, wenn sie das Bett aufschüttelt. Hier haben wir es mit der von Linke genannten „metaphorischen Leistung“ zu tun, solche Patienten als tot zu deklarieren. Man spricht bezeichnenderweise vom „Hirntodsyndrom“, obwohl man im allgemeinen unter „Syndrom“ ein Krankheitsbild versteht[18], welches am lebenden Menschen diagnostiziert wird. Den Tod als Krankheitsbild zu deklarieren, gehört in der Tat zu einer postmodernen Medizin.[19]

Des weiteren kann es bei „hirntoten“ Männern zu dauerhaften Erektionen kommen, so dass sie unter gewissen Umständen noch Kinder zeugen könnten. Und es ist durchaus möglich, dass Ärzte, die solche Patienten zu Tode definiert haben, aufgrund von Potenzstörungen etwa keine Kinder zeugen können. Was dergleichen Lebensäußerungen anbetrifft, können „Hirntote“ also solchen Ärzten gegenüber weitaus überlegen sein.

Und was hirntoten Männern recht ist, das ist hirntoten Frauen billig. Denn sie können u. U. als moderne „Zombies“ oder „Untote“, wie man sie auch schon bezeichnet hat, noch Kinder gebären. Der Vorgang und die Diskussion um das Erlanger Baby haben zur Genüge gezeigt, welcher Sprengstoff in anthropologischer und ethischer Hinsicht hier verborgen ist. Während sich nahezu das gesamte emanzipatorische Lager entrüstete, wieso man denn einer toten Frau noch zumuten könne, ein Kind zu gebären, sie also zu missbrauchen, bemühten sich hochqualifizierte Experten, wenigstens das Leben des Kindes zu retten. Das Kind kam schließlich durch Spontangeburt - leider tot - zur Welt. Man hatte übrigens schon Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt. Schon öfter waren Kinder von totgesagten Müttern - und zwar lebend - geboren worden. Die Erlanger Rettungsaktion hat aber unmissverständlich erwiesen, dass diese Frau keine Leiche war, dass also eine Leiche kein Kind gebären kann. Und eine Spontangeburt ist ohne Einwirkung und Steuerung des totgeglaubten Gehirns ebenfalls nicht möglich.[20]

Komplexe Lebensfunktionen als nachklingende Reflexe von toten Menschen zu deklarieren, bedeutet nun aber, Willkür walten zu lassen und eine Blickverengung auf jene Kriterien vorzunehmen, die man vorher pragmatisch, also zweckhaft, festgelegt hat. Willkür heißt nun aber, dass der Wille zur Domi­nanz gelangt ist, nicht aber tieferes Verstehen, nicht die Einheit von Einsicht und Willen, die gemeinsam im Gewissen, dem Inbegriff des Wissens, verankert sein sollten. Und man wird fragen dürfen, warum es denn so viele verschiedene Register von Kriterien für den „Hirntod“ gibt. Inzwischen weist die Literatur weltweit mehrere Hundert verschiedene Kriteriengruppen für die Feststellung des „Hirntodes“ auf. So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass er längst nicht in allen Ländern akzeptiert wird.

Selbst wenn die von Menschen festgesetzten Kriterien für den „Hirntod“ erfüllt werden, bleibt der Patient durch lebenserhaltende Maßnahmen noch eine Zeitlang am Leben, denn „viele Systeme arbeiten in gegenseitiger Abhängigkeit einschließlich das Cardiovascular-System (Herz-Kreislauf-System), das Drüsensystem mit Absonderungen nach außen und innen, das Ausscheidungssystem und das Verdauungssystem.“ Es fehlen die typischen Merkmale einer Leiche, wie z. B. Kälte, Reaktionslosigkeit, Starrheit, blauschwarze Flecken. „Mit anderen Worten: Die Körperfunktionen und die Einheit des Körpers bestehen noch. Diese Einheit kann für einen Zeitraum von Tagen, ja sogar Wochen andauern.“[21]

Eine weitere Frage schließt sich an, nämlich diejenige, wie denn der Zustand eines als „hirntot“ definierten Patienten beurteilt werden soll, bei dem schließlich die lebenserhaltenden Maßnahmen abgestellt worden sind, bei diesem aber weiter die o. g. Lebensfunktionen anhalten, also ohne jene stabilisierenden Maßnahmen? Wenngleich es Mediziner gibt, welche diese Frage als belanglos abtun, so dürfte sie doch aus ethischer und anthropologischer Perspektive von Belang sein. Es taucht nämlich ernsthaft die Frage auf, ob es als akzeptabel betrachtet werden kann, „die Beerdigung atmender Kadaver mit schlagendem Herzen“ vorzunehmen (größtes Problem bei den Pittsburgh-Ärzten).[22] Diese Frage erinnert mich fatal an den Aus­spruch eines Transplantationschirurgen, der auf die Frage, ob denn die „Hirntoten“ ganz und gar tot seien, antwortete: „Das kann doch höchstens einen Totengräber interessieren, nicht aber einen Transplantationschirurgen, der wirklich transplantieren will.“

 

Pragmatismus und Utilitarismus

Außerdem hört man gar nicht selten das Argument, dass die als hirntot deklarierten, irreversibel komatösen Patienten ohnehin keine Lebenschance hätten, also sterben müssten und dass sie daher für das „organische Recycling“ noch nutzbringend verwendet werden könnten. Die praktische Nützlichkeit und der praktische Erfolg, also Pragmatismus und Utilitarismus, stehen somit im Vordergrund. Die Verwirklichung des Utilita­rismus wird übrigens ebenfalls deutlich bei der heute geübten selektiven Abtreibung.[23]

Parallelen hierzu gibt es auch bei der Frage, die im Zusammenhang mit der In-vitro-Fertilisation gestellt wird, was denn etwa mit überzähligen oder „verwaisten“ Embryonen zu geschehen habe, welche die „Chance zur Menschwerdung“ nicht hätten und daher verworfen würden. Diese Embryonen könnten dann, indem sie geopfert würden, der Menschheit einen letzten Dienst erweisen.

Im übrigen ist das Argument, dem Tode Ausgelieferte könnten noch Nutzen bringen, gar nicht so neu. Auch im Nationalsozialismus glaubten Forscher und Praktiker, die Verfahren mit tödlichem Ausgang, also terminale Experimente, an Menschen vornahmen, sich moralisch mit dem Hinweis zu rechtfertigen, dass eben die Personen, an denen sie manipulierten, ohnehin dem Tod ausgeliefert seien. Wenn man aber Leben willkürlich beenden darf, weil Leben auf natürliche Weise oder durch Fremdeinwirkung ebenfalls ein Ende findet, dann kann ja letztlich wohl kaum jemand mehr sicher sein, dass sein Leben von anderen nicht manipulativ und definitiv ausgelöscht wird.[24]

Es ist grundsätzlich und in jedem Einzelfall ethisch nicht erlaubt, dass das Leben von Menschen beendet wird, dass Menschen also getötet werden, um dadurch die Lebenschancen anderer Menschen zu erhöhen. Tut man es dennoch, dann handelt es sich um katastrophale Einbrüche in unerlaubte Bereiche.[25]

Man darf aber keineswegs Medizinern allgemein ein mangelndes Verständnis auf diesem Gebiet vorwerfen. Das wäre ungerecht. In zunehmendem Maße melden heute immer mehr Vertreter unter ihnen erhebliche Bedenken gegen den sog. Hirntod an, oder sie verwerfen diese pragmatische Konzeption gänzlich.[26] Insbesondere gibt es immer mehr Anästhesisten, welche bei Kolloquien etwa zu diesen Themenbereichen die Frage aufwerfen, warum sie denn eigentlich anästhesieren, also ein Narkoseverfahren in Gang setzen sollen, wenn der Patient schon tot sei. Anästhesiert aber wird durchaus bei der Organentnahme von „Hirntoten“ und sie werden fixiert. Von Kadavern wurde bislang noch nicht berichtet, dass sie bei Sektionen hätten narkotisiert und angeschnallt werden müssen. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass neben zahlreichen Medizinern ebenfalls Berufsorganisationen der Pflegeberufe das Hirntodkonzept vehement ablehnen.

Weitere Fragen werden heute diskutiert, und zwar weltweit. Drei will ich nur nennen, sie aber aus Platzgründen hier nicht weiter behandeln. Einmal ist es die Frage, ob eine Organtransplantation überhaupt zum Wohle des Organempfängers erfolgen kann.[27] Zweitens gibt es jene, keineswegs immer öffentlich geführte Diskussion darüber, dass man weniger Organe bekommen würde, wenn den betroffenen Angehörigen und der Öffentlichkeit die Wahrheit über den wirklichen Zustand der komatösen Patienten mitgeteilt würde. Prof. Pichelmair, Transplantationsmediziner, resümiert: „Wenn wir die Gesellschaft über die Organspende aufklären, bekommen wir keine Organe mehr.“[28] Und es ist weiterhin die Frage, ob denn immer ausreichend genug reanimiert wird, wenn die Möglichkeit der weitaus lukrativeren Organgewinnung besteht. Denn es darf nicht verschwiegen werden, dass es in unserer Gesellschaft einerseits auch finanzielle Nutznießer der Transplantationsmedizin gibt und dass andererseits durch die dort verbrauchten Mittel Engpässe in der medizinischen Versorgung anderswo mitbedingt werden.“[29]

Und es wäre an der Zeit, ein ganzes Buch vorzulegen über Empfindungen solcher Menschen, die im - auch im sog. irreversiblen - Koma gelegen und später darüber berichtet haben, dass sie also weitaus mehr mitbekommen haben, als utilitaristisch und merkantil ausgerichtete Transplantationschirurgen wahrhaben möchten.[30] Solche Patienten haben zum Teil jedenfalls all das verfolgen können, was mit ihnen angestellt wurde. Das gilt nach glaubwürdigen Berichten auch für jene, die im „Hirntod“ gelegen haben.

 

Stellungnahme der Kirche

Angesichts solcher weltweit diskutierten Problemkreise hatte Papst Johannes Paul II. bereits an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kongresses der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften vom 14. Dezember 1989[31] eine Ansprache gehalten, in der es heißt: „Man darf aus dem menschlichen Leib kein bloßes Objekt machen oder ein Mittel für Experimente, wobei lediglich die Normen der wissenschaftlichen Forschung und der technischen Möglichkeiten gelten“ (3). Und es heißt weiter: „Das Problem des Augenblicks des Todes hat auf praktischer Ebene schwerwiegende Folgen, und dieser Aspekt ist auch für die Kirche von großem Interesse.“ ... „Genauer gesagt besteht die tatsächliche Wahrscheinlichkeit, dass das Leben, dessen Weiterführung man durch Entnahme eines lebenswichtigen Organs unmöglich macht, das einer lebenden Person ist, während doch die dem menschlichen Leben geschuldete Achtung absolut verbietet, es direkt und positiv zu opfern, wäre es auch zum Vorteil eines anderen Menschenwe­sens, das man aus guten Gründen glaubt, bevorzugen zu dürfen. (5)

Noch deutlicher äußerte sich der Papst in der Enzyklika „Evangelium vitae“: „Mit Hilfe äußerst spitzfindiger Systeme und Apparate sind Wissenschaft und ärztliche Praxis heute in der Lage, nicht nur für früher unlösbare Fälle eine Lösung zu finden und Schmerzen zu lindern oder zu beheben, sondern auch das Leben selbst im Zustand äußerster Schwäche zu erhalten und zu verlängern, Personen nach dem plötzlichen Zusammenbruch ihrer biologischen Grundfunktionen künstlich wiederzubeleben sowie Eingriffe vorzunehmen, um Organe für Transplantationen zu gewinnen.“

Indem in diesem Zusammenhang das Wort „Euthanasie“ ausdrücklich genannt wird, heißt es unter diesem Stichwort weiter: „In einem solchen Umfeld zeigt sich immer stärker die Versuchung zur Euthanasie, das heißt, sich zum Herrn über den Tod zu machen, indem man ihn vorzeitig herbeiführt und so dem eigenen oder dem Leben anderer ‘auf sanfte Weise’ ein Ende bereitet. In Wirklichkeit stellt sich, was als logisch und menschlich erscheinen könnte, wenn man es zutiefst betrachtet, als absurd und unmenschlich heraus. Wir stehen hier vor einem der alarmierendsten Symptome der ‘Kultur des Todes’.“[32] Dass die Kirche zu diesem schwerwiegenden Problem Stellung beziehen muss, liegt auf der Hand. Auch die Päpstliche Akademie der Wissenschaften hat im Februar 2005 auf einer Tagung festgestellt, dass der Hirntod nicht Tod des Menschen ist und daher nicht als Voraussetzung für die Organtransplantation gelten kann.[33]

Mit Blick auf die diesbezügliche Einschätzung der Kirchen macht Klaus Peter Jörns aufmerksam: „Es ist erfreulich, dass die leitenden Bischöfe der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland inzwischen von der in der Schrift ‚Organtransplantation’ noch akzeptierten Gleichsetzung von Hirntod und Tod des Menschen abgerückt sind.“ Die theologisch-ethische sowie kirchlich-seelsorgliche Unhaltbarkeit dieser Gleichsetzung wird herausgearbeitet.[34]

 

Ideologien und Gefahren im Wissenschaftsbereich

Es bestehen heute gerade im Wissenschaftsbereich mannigfache Ideologien und Gefahren. Unsere Zeit ist ganz überwiegend von Utilitarismus und Pragmatismus gekennzeichnet. Die Gefahr, zusammengehörende Realitäten voluntativ und argumentativ auseinanderzureißen, ist besonders groß. Es scheint ein neuer Dualismus gnostischer Prägung aufgekommen zu sein. Das alte, gnostische Leib-Seele-Problem scheint heute in einer neuen Variante vor uns zu stehen.[35]

Der gnostische Dualismus sieht u. a. eine grundsätzliche, wesentliche und wertehafte Trennung von Geist-Seele und Leib, wobei die Seele als Teil des Lichtes, der Leib dagegen als finsterer und böser Bestandteil des Menschen in die Finsternis zurückfällt, von der er gekommen ist. Für unseren Zusammenhang ist aber die gnostische Blickverengung im Sinne eines Blickzwanges auf die Geistigkeit des Menschen aufschlussreich. Würde und Existenz des Menschen werden fast ausschließlich aus seiner Geistbestimmung her abgeleitet. Das ist ein Hauptpunkt der gnostischen Irrlehre.

„Der Leib ist eine große Vernunft“[36], lässt Nietzsche seinen Zarathustra sagen und wendet sich zu Recht gegen die Einseitigkeit derer, welche auch die geistige Realität des Leibes nicht ernst nehmen.

Der Mensch ist eine Einheit aus Leib und Seele, auch dann noch, wenn geist-seelische Aktions- und Reaktionsweisen nicht mehr nachweisbar sind. Einen Menschen für tot zu erklären, nur weil Vorgänge im Gehirn mit den Mitteln naturwissenschaftlicher Medizin nicht sichtbar und messbar gemacht werden können, ist fundamental ungerecht und wirklichkeitsfremd. Man darf den Menschen nicht einseitig zum „Hirnwesen“ degradieren. Das wäre eine Ignoranz der Schöpfungsordnung. Der Mensch ist zeitlebens eine leib-seelische Einheit.[37] Der KKK betont insbesondere: „Die Einheit von Seele und Leib ist so tief, dass man die Seele als die „Form“ des Leibes zu betrachten hat, das heißt die Geistseele bewirkt, dass der aus Materie gebildete Leib ein lebendiger menschlicher Leib ist. Im Menschen sind Geist und Materie nicht zwei vereinte Naturen, sondern ihre Einheit bildet eine einzige Natur.“[38] Diese Einheit von Seele und Leib ist von Beginn der menschlichen Existenz an gegeben und währt bis zu seinem natürlichen Tod. Die geistige Seele eines jeden Menschen wird bei der Zeugung eines Kindes durch die Eltern unmittelbar von Gott erschaffen: Gott ist der „Schöpfer der unsterblichen Geistseele eines jeden Menschen“.[39]

Aus all dem geht schon hervor, dass der Leib des Menschen niemals isoliert erscheinen kann. Er ist immer auf die Geist-Seele angewiesen. Anders lautende Auffassungen und Definitionen sind realitätsferne, reine Setzungen. Wir haben nicht Leib und Seele, wir sind eine leibseelische Einheit.

Die Ausbreitung derzeitiger neurologischer und neurochirurgischer Terminologie legt nicht selten eine rein sektorale Perspektive nahe, nicht aber eine integrale Sicht, die allein der Wirklichkeit des Menschen und der christlichen Auffassung entsprechen kann.

 

Perspektiven

Das Problem, um das es sich hier handelt, ist dieses: Menschen, die sich im Prozess des Sterbens befinden, dürfen auch aus pragmatischem Interesse nicht als tot deklariert werden. Der Mensch darf nicht für tot erklärt werden, bevor nicht die Zerstörung des gesamten Gehirns und gleichzeitig auch der irreversible Ausfall der Atmungs- und Kreislaufsysteme vorliegen. Mit anderen Worten: „Der Tod darf nur nach seinem Eintritt, nicht vorher erklärt werden.“[40] Tut man es dennoch, dann ist das eine fundamentale Ungerechtigkeit, ein Anschlag auf die Humanität und eine Ignoranz der Schöpfungsordnung. Ein Mensch, der sich im Prozess des Sterbens befindet, ist noch lebendig und muss als Lebender behandelt werden. Mehr noch, er bedarf der besonderen Zuwendung von Seiten der Mitmenschen.[41]

Die Ehrfurcht vor dem sterbenden Menschen gehört zu den Grundlagen jeder Kultur. Der Schwund einer Kultur zeigt sich aber gerade dann, wenn die Schwächsten eliminiert werden.[42] Das Konstrukt „Hirntod“ ist eine Setzung, für die kein Wahrheits- oder Wahrscheinlichkeitsbeweis angetreten werden kann. Die Erkenntnis, was Leben ist, auch wann Leben anfängt und wann Leben aufhört, darf nicht dezisionär bestimmt werden, sondern ist durch physiologische Befunde vorgegeben.            n

 



[1]     Vgl. Andreas Zieger, Medizinisches Wissen und Deutung in der „Beziehungsmedizin“ – Konsequenzen für Transplantationsmedizin und Gesellschaft, in: A. Manzei, W. Schneider (Hrsg.), Transplantationsmedizin – Kulturelles Wissen und gesellschaftliche Praxis, Münster 2006.

      „Das Hirntodkonzept ist hinsichtlich seines erkenntnistheoretischen und methodologischen Reduktionismus, seiner immanenten Psychopathologie (Dissoziation, Spaltung), seiner mangelnden Tragfähigkeit für einen angemessenen Umgang mit Menschen im Hirntodsyndrom und hinsichtlich seiner biopolitischen Implikationen kritisch zu beurteilen.“ Ebd. – Vgl. ebenfalls: Zieger, A., Gleichsetzung von Hirntod und Gesamttod. Warum ist das Thema des Hirntods nicht bewältigt?, in: Erzeugung und Beendigung des Lebens? Das Menschenbild in der Medizin und seine Konsequenzen, hrsg. v. W. Greive, K.-H. Wehkamp, Rehburg-Loccum 1995

[2]     Hans Jonas, Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt 1985 (Insel) und 1987 (Suhrkamp), hier 1987, S. 220

[3]     Ebd., S. 221.

[4]   Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch mit klinischen Syndromen und Nomina Anatomica, Berlin/New York, 2571994.

[5]     Ebd.

[6]     Balkenohl, M., Reis, H., Schirren, C., Vom beginnenden menschlichen Leben. Ethische, medizinische und rechtliche Aspekte der Gentechnologie und der Fortpflanzungsmedizin, Hildesheim, 1987.

[7]     Jonas, ebd., S. 221.

[8]     Der Tagesspiegel online, 15.10.2006.

[9]     Vgl. Hirntod, immer noch umstritten. Eine kritische Abhandlung von Dr. med. Joseph Evers, Prof. der Kinderheilkunde an der medizinischen Fakultät der Georgetown-Universität in Washington, D.C.. und Dr. med. Paul A. Byrne, Mitarbeiter der medizinischen Fakultäten der Universität von St. Louis, Mo., sowie an der Creighton Universität in Omaha, Neb., und der Oral Roberts Universität, seit 1989 Direktor der Kinderheilkunde-Abteilung des Ärztlichen Zentrums St. Vincent in Bridgeport, Connecticut, U.S.A. Übersetzung von Prof. Dr. Gerhard Fittkau, aus: The Pharos of Alpha Omega Alpha, Honor Medical Society, Vol. 53, No. 4, Fall 1990, p. 10-12. Erschienen in: Medizin und Ideologie. Informationsblatt der Europäischen Ärzteaktion, 16. Jahrg., Dez. 1994, 55ff.

[10]    A. E. Walker and G. F. Molinari, Criteria of cerebral death. Trans Am Neurol Assoc. 100: S. 29-35, 1975, zit. N. J. Evers, a.a.O., S. 56.

[11]    Jonas, ebd., S. 223.

[12]    M. Balkenohl, Die Achtung vor dem menschlichen Leben, in: Ders., Vom Sinn des Lebens, Orientierungen in unruhiger Zeit, Stein am Rhein, 1992.

[13]    NB Nr. 12 v. 19. März 1995.

[14]    Willi Geiger, Wie und wie weit schützt das Grundgesetz die Würde und das Leben des Menschen? In: W. Böhme (Hg.), Menschenwürde und Schutz des Lebens. Zur Ethik der Gentechnologie, Karlsruhe, 1987, S. 12.

[15]    Ebd.

[16]    Vgl. auch Detlev B. Linke, Hirnverpflanzung. Die erste Unsterblichkeit auf Erden, Hamburg 1993, S. 120.

[17]    Ebd., S. 117.

[18]    Syndrom = Symptomenkomplex; Gruppe von gleichzeitig zusammen auftretenden Krankheitszeichen.

[19]    Vgl. Linke, a.a.O., S. 119.

[20]    Vgl. H. Schneider, Die Erlanger Rettungsaktion. Eine achtseitige Dokumentation von Pro Conscientia e.V. vom Schutze menschlichen Lebens und für das ungeborene Kind, Heidelberg 30.3.1993; vgl. ferner M. Siegler and D. Winkler, Brain death and livebirth, editorial JAMA 248: S. 1101-2, 1982, S. 1101, zit. N. J. Evers u.a., a.a.O., S. 58.

[21]    P. A. Byrne, S. O’Reilly, P.M. Quay et al., Brain death - the patient, the physician, and society. Gonzaga Law Review 18 (3), 429-516, 1982-83, in: Medizin und Ideologie, Informationsblatt der Europäischen Ärzteaktion, 16. Jahrg., Dezember 1994, S. 57.

[22]    Lt. Spiegel-Bericht vom 3.3.1997.

[23]    Vgl. M. Balkenohl, Gentechnologie und Humangenetik. Ethische Orientierungen, Stein am Rhein 1989, S. 21ff.

[24]    Ebd., S. 81ff.

[25]    Auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 2005 in Hannover wurde am 26. Mai 2005 am Vormittag im Convention Center 3 die Thematik erörtert: „Behütetes Sterben und Organspende, vereinbar oder nicht? Kritische Aufklärung über Organtransplantation“. Im Rahmen dieser Veranstaltung hielt der Verfasser (Prof. Balkenohl) ein Referat zum Thema: „Das Menschenbild der Transplantationsmedizin“. In diesem Zusammenhang wurden ihm zur Beantwortung folgende Fragen vorgelegt:

Leben bis zuletzt: Wie ist der kirchliche Auftrag zur Sterbebegleitung?

Was sind die Bedürfnisse des Sterbenden und seiner Angehörigen? Welche seelsorglichen Konsequenzen hat das?

Tritt die Kirche bei Organspendern in gleichem Maße für eine Begleitung bis zuletzt ein, wie bei anderen Sterbenden?

„Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ – Wer ist der Nächste?

Ich – als Empfänger, Spender, Angehöriger?

Ist der Nächste der Angehörige oder der Empfänger?

Findet eine Güterabwägung statt?

Für den Spender soll der Nächste der ferne unbekannte Empfänger sein, der Empfänger liebt sich selbst!

Wie vereinbart sich der Widerspruch, beginnendes Leben zu schützen, aber nicht das verlöschende Leben beim Organspen­der (wo gerade dort doch noch so sehr viel lebt)?

„Du sollst nicht begehren …“, wird dieses Gebot bei der Organtransplantation verletzt?

Gibt es eine Güterabwägung beim Leben?

[26]    Vgl. R. Greinert, G. Wuttke (Hg.), Organspende. Kritische Ansichten zur Transplantationsmedizin, Göttingen 1993. Vgl. H. Piechowiak, Eingriffe in menschliches Leben. Sinn und Grenzen ärztlichen Handelns, Frankfurt, 1987.

[27]    Ebd.

[28]    G. und J. Meyer (Hrsg.): KAO, Kritische Aufklärung über Organtransplantation, Sinzig o.J.; Vgl. Bernhard Kathan, Das Elend der ärztlichen Kunst, Kadmos 2002.

[29]    Prof. Dr. Klaus Peter Jörns, Die ethische Beurteilung der Hirntod-Diagnose und der Organtransplantation in theologi­scher Perspektive, in: W. Ramm (Hrsg.), Organspende, Letzter Liebesdienst der Euthanasie? Abtsteinach 42000, 84.

[30]    Vgl. Günther Stolze, Ethische Fragen zu thanatologischen Experimenten, in: R. Bäumer, A. v. Stockhausen (Hrsg.), Zur Problematik von Hirntod und Transplantation, Weilheim-Bierbronnen 1998.

[31]   L’Osservatore Romano. Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 7 vom 16. Febr. 1990, S.10.

[32]    Enzyklika EVANGELIUM VITAE von Papst Johannes Paul II. vom 25. März 1995, 64.

[33]    Dr. med. Paul A. Byrne, Prof. Dr. Cicero G. Coimbra, Prof. Dr. Robert Spaemann, Mercedes Arzú Wilson, „Hirntod ist nicht Tod!”, Essay von einer Tagung der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften, Februar 2005, in:FMG-Information 87 – Dezember 2005:. Weiterhin in: Schriftenreihe der Aktion Leben e.V., Absteinach/Odw. 2005. Der Neonatologe Dr. Paul Byrne aus Toledo, Ohio, betont hier: „Die Beobachtung eines Stillstandes der Gehirnfunktion oder eines anderen Körperorgans zeigt noch nicht eine Zerstörung dieses Organs und noch viel weniger den Tod dieser Person an.“

[34]    Prof. Dr. Klaus-Peter Jörns, Die ethische Beurteilung der Hirntoddiagnose und der Organtransplantation in theologischer Perspektive, in: W. Ramm (Hrsg.), Organspende, Letzter Lie­besdienst oder Euthanasie?, Abtsteinach 42000.

[35]    Vgl. M. Balkenohl, Gibt es Gnostizismus in Ethik und Moral? In: W. Eckermann, R. Sauer, F. G. Untergaßmair (Hg.), Erlösung durch Offenbarung oder Erkenntnis? Zum Wiedererwachen der Gnosis, Kevelaer, 1992.

[36]    Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, München 1955, II, 300.

[37]    Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, München 1993, 362-368.

[38]    KKK 365. - Schon Aristoteles äußert sich antignostisch: „anima forma corporis“.

[39]    Paul VI., Credo des Gottesvolkes, 30. Juni 1968; Die österreichischen Bischöfe, Leben in Fülle. Leitlinien für katholische Einrichtungen im Dienst der Gesundheitsfürsorge, Wien 2006, S. 9.

[40]    J. Evers u. a., a.a.O., 56; vgl. auch J. Bonelli, Leben-Sterben-Tod, in: Der Status des Hirntoten, Heidelberg 1995, S. 94-107; F. Largiader, Checkliste Organtransplantation, Stuttgart 1996; F. Schadt, Der Hirntod-Tod des Menschen? Zur Kritik der Vorverlegung des Todeszeitpunktes“, Frankfurt 1995; J. Hoff/J. in der Schmitten, Wann ist der Mensch tot?, Hamburg 1995.

[41]    „In einem beziehungsethischen Verständnis ist ein dialogischer Umgang mit Menschen im Hirntodsyndrom zu fordern, der den Sterbeprozess eines Menschen bereits während der Hirntoddiagnostik wie bei ‚normal’ Sterbenden empathisch wahrnimmt, begleitet und biosemiologisch übersetzt.“ In: A. Zieger, Medizinisches Wissen und Deutung in der „Beziehungsmedizin“ – Konsequenzen für Transplantationsmedizin und Gesellschaft, a.a.O.

[42]    Vgl. Trautemaria Blechschmidt, Worauf es ankommt. Existen­tielle Aspekte zur Diskussion um Hirntod und Organtransplantation, in: R. Bäumer, A. v. Stockhausen (Hrsg.), Zur Proble­matik um Hirntod und Transplantation, a.a.O., 97-99. „Bei der Hirntodproblematik und tötenden Transplantation geht es in erster Linie darum, ob ein Mensch über Anfang und Ende seines Lebens oder das eines anderen entscheiden darf, selbst unter dem Motto „Humanität“., Ebd., 98f.; Vgl. Dies., Worauf es ankommt – wenn jemand stirbt, in: W. Ramm (Hrsg.), Organspende …, Abtsteinach 42000.

 

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