FMG-INFORMATION Nr. 90, S. 23f. (November 2006)

 

 

War der Mörder
bei der Heiligsprechung?

 

Am 27. April nächsten Jahres jährt sich die Seligsprechung der hl. Maria Goretti durch Papst Pius XII. zum 60. Mal. Die Heiligsprechung war dann 1950. Immer wieder kann man in Beschreibungen dieser Reinheitsmärtyrin lesen, dass ihr Mörder Alessandro Serenelli bei der Selig- und/oder Heiligsprechung auf dem Petersplatz in Rom anwesend gewesen sei.

Diese Behauptung findet sich z. B. im Lebensbild Wilhelm Hünermanns „Um Mädchenehre“ (bezüglich der Seligsprechung) oder im Buch von Carl Julius Abegg: „Maria Goretti, Quell der Reinheit“ (Zürich 1966) und wird immer wieder kolportiert…

 

 

In dem von uns verbreiteten Buch „Die wahre Geschichte von der hl. Maria Goretti“ (Jestetten, 10. Auflage 1990) von Vinzenz Ruef hingegen heißt es über Alessandro Serenlli: „Er hat weder an der Selig- noch an der Heiligsprechung des von ihm ermor­deten Mädchens teilgenommen“ (S. 91).

Wir haben nun in unserem Archiv von Schriften über diese Reinheitsmärtyrin „gegraben”, um noch weitere Belege zu fin­den:

 

In einem gedruckten Text des Passionisten Alfred Mac­Conastair in englischer Sprache mit dem Titel „Convict Number 42“ („Sträfling Nr. 42“) wird das Schicksal der Mörders mit den Details von Gerichtsverhandlung und Urteil usw. berichtet. Darin wird ein Bericht des Passionistenpaters Celestino Nerone über seinen Besuch bei Alessandro Serenelli in Ascoli Piceno am 6. März 1950 wiedergegeben. Als Aussage Alessandros wird da zitiert: „Ich sollte zur Seligsprechung Marias fahren, als ‚P. Stefano’ verkleidet, zusammen mit Padre Luigi. Doch P. Luigi wurde einige Tage danach durch einen Irrtum erschossen, so dass ich nie gefahren bin. So kam die Verwirrung auf.“ Dieses Interview schließt dann mit der Aussage: „Der glücklichste Tag in meinem Leben seit meinem Fall war, als ich als Zeuge in Marias Seligsprechungsprozess auftrat. Ich weiß, dass sie im Himmel für mich bittet. Ich bin jetzt ein alter Mann und habe nicht mehr lange zu leben, aber GOTT wird mir gnä­dig sein, das weiß ich. Maria wird dafür sorgen.“ Er gab dem Passionistenpater dann eine kurze schriftliche Botschaft mit: „Ich bitte die Welt um Verzeihung für die Grausamkeit, die ich gegen die Märtyrin Maria Goretti und gegen die Reinheit be­gangen habe. Ich fordere alle auf, unmoralische Schauspiele und alle gefährlichen Gelegenheiten zu meiden, die Anlass zur Sünde sein können. - Alessandro Serenelli.“ Dieser Bericht aus der Zeit vor der Heiligsprechung belegt also, dass Serenelli nicht bei der Seligsprechung in Rom dabei war.

 

Zum Verständnis: Alessandro leugnete anfangs seine Tat und war auch nach der Verurteilung im Oktober 1902 zu 30 Jahren Kerker verhärtet. Er verbüßte die Haft zunächst in Rom, dann an anderen Orten, teilweise auch mit Zwangsarbeit. Als ihn nach einiger Zeit der Bischof von Noto im Gefängnis besuchte, bedauerte er aufs Schmerzlichste seine Untat. Dieser seel­sorgliche Besuch und ein Traum (bei dem ihm die hl. Maria Goretti erschien) lösten die Verhärtung und befreiten seine Seele zur Umkehr. Nach der vorzeitigen Entlassung wegen guter Führung aus dem Gefängnis 1929 arbeitete der nun 47-Jährige zunächst als Maurer und wurde 1936 Klosterknecht (Gärtner) im Kapuzinerkloster Ascoli Piceno (er trat also nicht als Bruder ein, wie auch manchmal berichtet wird; allerdings schloss er sich dem franziskanischen 3. Orden an und erhielt dabei den Namen „Fra Stefano“). Er führte dort ein Leben der Buße.

Bedeutsam ist: Im Jahr 1937 hatte er den Mut gefunden, nach Corinaldo zu fahren (dem Geburtsort von Maria Goretti, wohin die Mutter mit ihren Kindern nach der Ermordung Mariettas zurückgekehrt war) und die Familie Goretti um Verzeihung für sein Verbrechen zu bitten. Er war vor Mamma Assunta auf die Knie gefallen, hatte sie gebeten: „Assunta, verzeiht mir!“, wor­auf die Mutter der Märtyrin – die schon in der Gerichtsver­handlung 1902 ihre Verzeihung ausgesprochen hatte - ant­wortete: „Sie hat Euch verziehen, GOTT hat Euch verziehen! Auch ich verzeihe Euch.“ Beide begaben sich dann zur Kirche und kommunizierten nebeneinander. Es war Weihnachten 1937! (Dies wird berichtet in der Lebensbeschreibung, die im Heiligtum der hl. Maria Goretti in Nettuno vertrieben wird, einer deutschen Übersetzung des italienischen Buches von P. Fortunato Ciomei und P. Simone Sconocchia: „Die hl. Maria Goretti in den Pontinischen Sümpfen“ [Nettuno 1980]. Auch in diesem Buch ist nichts von einer Anwesenheit des Mörders bei Selig- oder Heiligsprechung vermerkt!]

 

Der Autor der von uns verbreiteten Biographie, der bereits verstorbene Pfarrer Vinzenz Ruef, war mit dem italienischen Priester Don Wildo Casvecchia, Corinaldo, befreundet, der wiederum eng mit der Mutter der Heiligen, Maria Assunta Goretti-Carlini, bekannt war und sich bei der Selig- und Heiligsprechung in Rom jeweils in der Nähe der leidenden Greisin befand (sie starb 1954 im Alter von 88 Jahren). Don Wildo berichtet in einem von V. Ruef übersetzten, im Druck verbrei­teten Text „Im Gespräch mit Mamma Assunta“ ausführlich auch von seinem Besuch beim über 70-jährigen Alessandro Serenelli im Kapuzinerkloster in Ascoli Piceno. (Da Serenelli am 2.6.1882 geboren war, hat dieses Gespräch also nach 1952 stattgefunden. Gestorben ist Alessandro am 6. Mai 1979 im Kapuzinerkloster Macerata.)

Don Wildo also referiert. Serenelli begab sich nicht nach Rom am 27. April 1947 und fuhr auch nicht zur Heilig­sprechung im Juni 1950. Er beteiligte sich auch nicht an der Feierlichkeit, die in Corinaldo gehalten wurde im Mai 1947 und im September 1950. Aber er kam später, privatim...“ – und zwar zu einem Besuch nach Corinaldo –- im November 1950, wo „er Mamma Assunta besuchte und in die der hl. Maria Goretti geweihten Krypta hinabstieg, um dort niederzuknien und vor dem Altar und vor der Reliquie seines Opfers zu be­ten“. - Aus diesem Dokument geht erneut hervor, dass der Mörder weder bei der Seligsprechung noch bei der Heiligspre­chung in Rom anwesend war.

 

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