"Die Faszination der Keuschheit"

Predigt von Papst Johannes Paul II. am 27.9.1986 in Rom-Massimina

Am 14. September 1986 besuchte der Hl. Vater die Stadt Aprilia in der Nähe von Le Ferriere, wo Maria Goretti einige Jahre gelebt und das Martyrium erlitten hatte, ehe sie am 6. Juli 1902 im Spital von Nettuno starb. Dabei sagte er unter anderem:

Anziehungskraft der Reinheit erneuern

"Maria Goretti ruft das Bild des Starkmuts, und welchen Starkmuts, in Erinnerung. Bis zur Hingabe des eigenen Lebens! Und für ein Ideal - die Reinheit -, das in der ganzen Schönheit seiner geistlichen Anziehungskraft unbedingt erneuert werden muss; ein Ideal, das - wie es das Leben der Heiligen gezeigt hat - so reiche Früchte des Edelmuts und der Nächstenliebe trägt".

Eine sehr wichtige Darlegung der christlichen Sicht des Leibes

Noch ausführlicher über die hl. Maria Goretti und die notwendige Wiedergewinnung der Tugend der Reinheit für unsere Zeit sprach der Papst bei einem Besuch der römischen Vorstadtpfarrei "CORPUS CHRISTI" in Massimina am 27. September 1986. Anlässlich einer Jugendmission war der Reliquienschrein der hl. Maria Goretti dorthin gebracht worden. - Die Predigt ist von uns - geringfügig gekürzt - übersetzt aus L'Osservatore Romano (italienische Hauptausgabe) vom 2. 10.1986. Die Zwischenüberschriften stammen von uns.

Die christliche Bedeutung des Leibes

"Wisst ihr nicht, dass eure Leiber Glieder CHRISTI sind?" (1 Kor 6,15)

Diese Frage, die uns der heilige Paulus in der ersten Lesung der hl. Messe heute vorlegt, ist auch eine bekümmerte Mahnung. Sie erinnert an die sehr tiefe Bedeutung, die die menschliche Leiblichkeit in der christlichen Auffassung hat.

Der Apostel lenkt die Aufmerksamkeit auf die Lehre von der Gemeinschaft der Kirche als dem "mystischen Leib" CHRISTI. Indem sich der Christ vom Leib des HERRN nährt, wird er durch Ihn zu e i n e m "Leib" und zu "e i n e m Geist" (V. 17) geformt.

Der Leib des Christen wird so zum "Tempel des HEILIGEN GEISTES" (V. 19). Durch das Blut CHRISTI erlöst, gehört der Leib des Christen nicht mehr ihm selbst (vgl. VV 19-20). Der Leib des Christen ist erkauft mit dem Blut CHRISTI.

Maria Goretti weist den Weg

Wir gedenken heute anlässlich einer Jugendmission in besonderer Weise einer noch sehr jungen Schwester von uns, die jene Worte des hl. Paulus so tief erfasste, dass sie sie auf heroische Weise bis zur äußersten Konsequenz lebte. Und wir wollen sie um ihre Fürbitte anrufen. Ihr wisst alle genau, wen ich meine: die heilige Maria Goretti, deren heilige Reliquien heute hier bei uns sind.

Es ist diese kleine Heilige, der wir uns heute so nahe fühlen. Wir spüren, dass ihr Geist unter uns gegenwärtig ist, unter euch, meine lieben Jugendlichen. Sie ist ja eine Jugendliche wie ihr und teilt eure Probleme.

Sie versteht euch. Sie kennt euch. Sie liebt euch. Sie kennt eure Schwierigkeiten, weil es auch die ihren waren. Aber sie hat sie bewältigt. Darum kann sie Wegweiserin sein.

CHRISTUS liebt und befiehlt die Keuschheit

Die Botschaft der heiligen Maria Goretti ist dieselbe wie die des heiligen Paulus. Maria Goretti hat sie übersetzt in Taten.

Auf den zur Erinnerung an dieses heilige Messopfer ausgeteilten Bildchen habe ich die kleine Heilige von Nettuno "Märtyrin der Keuschheit" genannt. Was bedeutet diese Bezeichnung? Wie kann man "Märtyrin der Keuschheit" sein?

Nun, ein Märtyrer ist, wer sein Leben für CHRISTUS hingibt. Für jenen JESUS CHRISTUS, der uns die Keuschheit befiehlt und der jene, "die reinen Herzens sind", selig preist (Mt 5,8).

Maria Goretti liebte die Reinheit, weil CHRISTUS die Reinheit liebt. Sie wollte keine Sünde gegen die Reinheit begehen - selbst um den Preis ihres Lebens -, weil sie CHRISTUS nicht beleidigen wollte. Indem sie ihr eigenes Leben um der Reinheit willen hingab, gab sie es also für CHRISTUS hin.

Maria Goretti ist, wie alle Märtyrer, eine Märtyrin für CHRISTUS. Sie hat ihre heroische Liebe für CHRISTUS bewiesen, indem sie bis zum heroischen Grad jene Reinheit liebte, die von CHRISTUS geliebt und befohlen wird.

Keuschheit ist Ausdruck der menschlichen Würde

Meine lieben Jugendlichen, an euch will ich mich in besonderer Weise wenden: Welch wunderbare Einladung an euch kommt von dieser eurer jungen Schwester! Welchen Ausblick auf menschliche Größe zeigt sie euch, die doch nur ein zartes und ihrem Wesen nach einfaches Mädchen aus dem Volk war! Und doch, welche Weisheit und welches Licht liegt für uns in ihrem Zeugnis!

Maria Goretti lässt uns im Beispiel ihres Lebens und ihres Sterbens ein Ideal sichtbar werden, dessen außergewöhnliche Faszination wir alle spüren müssen. Sie gibt uns nämlich ein Beispiel dafür, wie man die eigene Identität als Getaufter tief achten und die kraftvolle und aufmerksame Pflege der eigenen unversehrten Würde in das Ganze der menschlichen Formung einbeziehen muss. Diese Würde, für die die Keuschheit ein erstrangiger Ausdruck ist, ist uns nicht erst als Christen, sondern schon als Menschen zu eigen.

Wir sind heute sehr darum besorgt, unsere personale Würde und Freiheit als unsere unveräußerlichen Rechte zu schützen. Aber tun wir das immer in rechter Weise?

Ist uns wirklich klar, dass die Keuschheit wieder beachtet werden muss, wenn es um die Förderung und Verteidigung unserer eigenen menschlichen Würde geht? Sind wir auch fest überzeugt, dass die Sünde der Unreinheit eine Verletzung der menschlichen Würde, eine Schändung des Lebens, eine Verfälschung der Liebe ist?

Das Böse liegt in der Missachtung des Leibe

"Wer sich der Unzucht hingibt, sündigt gegen den eigenen Leib", so sagt der hl. Paulus (1 Kor 6,18).

Die christliche Ethik betrachtet den menschlichen Leib mit Bewunderung und Hochschätzung. Der heilige Paulus schreibt in einem anderen Brief (1 Thess 4,4-5): "Jeder soll seinen Leib in Heiligkeit und Ehrbarkeit zu besitzen wissen, nicht in leidenschaftlicher Lust wie die Heiden, die GOTT nicht kennen" und deshalb nicht wissen, dass der Leib "Tempel des HEILIGEN GEISTES" ist.

Das Böse liegt für den Christen nicht im Leib; es liegt nicht in der menschlichen Sexualität. Das Böse liegt im Mangel an Ehrfurcht vor der Würde des Leibes, vor der wahren Zweckbestimmung der menschlichen Geschlechtlichkeit. Das Böse liegt in der "Begierlichkeit", die aus dem "Herzen" des durch die Erbsünde verwundeten Menschen kommt und die ihn dazu verleitet, nicht mehr das wahre Wohl des Nächsten zu suchen, sondern dessen Leib als ein Objekt zu sehen, das er sich aneignen könne.

Die Begierlichkeit nimmt der Liebe die innere Freiheit der Hingabe, "entpersönlicht" gewissermaßen die geliebte Person, indem sie sie in ein bloßes Objekt egoistischen Genusses verkehrt. Die christliche Ethik ist sicher manchmal streng. Doch hat sie nichts gemein mit einer manichäischen Auffassung, die im Leib die Wurzel des Bösen sehen möchte.

Verzicht als Weg der Erhöhung

Wenn die christliche Ethik manchmal Verzicht und Opfer von uns verlangt, so nur deshalb, um die Leiblichkeit zu reinigen und zu erheben und mit ihr den ganzen Menschen zu erhöhen. Unsere Zeit ist charakterisiert durch die "Wiederentdeckung" der Werte des Leibes. Eine solche Wiederentdeckung ist an sich schätzenswert und achtbar, gerät aber oft durch eine Haltung der Entsakralisierung und Ehrfurchtslosigkeit in Gegensatz zu den Werten des Geistes. In einer solchen Zeit ist es notwendig, eine Sicht vom Menschen neu zu bekräftigen, die beide Dimensionen des menschlichen Seins, die leibliche und die geistige, angemessen in Einklang bringt.

Und genau nach dieser Harmonisierung strebt die christliche Ethik in jeder ihrer Normen, welche die Beziehungen zwischen Leib und Geist betreffen. Dabei lässt sie sich stets von der übernatürlichen Zukunftsaussicht erleuchten, mit der die GÖTTliche Offenbarung den Erwartungen des Menschen entgegenkommt, und zwar besonders von der Aussicht auf die endgültige Auferstehung, in der der Leib gewürdigt wird, in einer erneuerten Lebensgemeinschaft mit dem Geist an der Freude GOTTES selbst teilzuhaben.

Weder der Materialismus noch der Hedonismus, sondern nur die christliche Ethik kann wahrhaft die Würde des menschlichen Leibes so erhöhen.

Faszination der Keuschheit wiederentdecken

Maria Goretti hat ihr leibliches Leben geopfert, gerade weil sie es nicht mit Sünde beflecken wollte, weil sie keine Sünde gegen ihren Leib begehen wollte! Sie hat begriffen - und das ist ihre Lehre für uns -, dass das wahre Übel für den Leib nicht so sehr das Leiden ist (sie konnte sogar den Tod auf sich nehmen), sondern die freiwillige Tat - die Sünde -, die man begeht gegen den Leib und gegen den Sinn des Lebens und die Weitergabe des Lebens, den die Schöpferweisheit in den Leib hineingelegt hat.

Unsere Gesellschaft muss jene Tugend wiedererlangen, für die Maria Goretti ihr Leben gab, und sie muss die Anziehungskraft und Faszination dieser Tugend wiederentdecken.

Die Keuschheit erobern

Es ist ebenso schwierig wie notwendig, die Keuschheit zu erringen. Und wenn wir nicht ihre ganze Schönheit erkennen, werden wir kaum zu dem Kampf bewogen werden, der notwendig ist, um diese Tugend zu erringen. Die Eroberung der Keuschheit verlangt eine mutige und ausdauernde Willensanstrengung. Diese wird durch die GÖTTliche Gnade gestärkt, die die Natur von ihren schlechten Neigungen heilt und auf das Gute hin ausrichtet.

Möge für euch, liebe Jugendliche, die Keuschheit die Grundlage eines edlen und hochherzigen Kampfes sein, dessen Ziel nicht so sehr die physische Bestleistung als vielmehr die Entwicklung der moralischen Stärke und die volle Eroberung der eigenen Person-Würde ist.

Der junge Mensch, der der sinnlichen Lust nachgibt, kann sich nicht in rechter Weise auf diese Kämpfe vorbereiten und kann auch nicht die Voraussetzungen erbringen, um sie siegreich zu bestehen.

Früchte der Keuschheit

Möge dieser edle Wettkampf eure Herzen mit Begeisterung entflammen! Es wird eine viel größere Klarheit und Freude in euer Leben kommen! Ihr werdet euch mit viel stärkerem Vertrauen der kommenden Verantwortung und den schweren Kämpfen stellen, die euch bei der Gestaltung eurer Zukunft erwarten!

Die Frucht der Keuschheit ist die innere Harmonie der Person und die Fähigkeit zu einer großmütigen und selbstlosen Liebe in der Freiheit des Geistes und in einer lebendigeren Empfindsamkeit für den Wert der GÖTTlichen und übernatürlichen Güter.

Reinheit auf verschiedene Weise leben

Die Gegenwart der Reliquien der hl. Maria Goretti sei für euch, liebe Jugendliche, eine Ermutigung. Sie seien ein Zeichen und eine Ursache der Hoffnung! Wofür immer ihr euch morgen entscheiden werdet - zur Ehe, zum Priestertum oder zum Ordensleben -, die kleine Heilige von Nettuno ist für euch alle eine Lehre und Ermutigung. Die Reinheit kann auf verschiedene Weise gelebt werden, je nach der Berufung, die wir von GOTT erhalten. Wichtig dabei ist es, zu erfassen, welche Art von Reinheit GOTT in unserem Leben erwartet, und diesem Ideal mit Festigkeit und Opferbereitschaft treu zu bleiben. Die Früchte der Reinheit sind immer bedeutend und dauerhaft, in welchen Lebensstand auch immer GOTT uns ruft, um Zeugnis zu geben.

"Verherrlicht also GOTT in eurem Leib!" sagt uns der hl. Paulus (1 Kor 6,20)."