Die Heiligsprechung

Ansprachen von Papst Pius XII. 1950

Am 24. Juni 1950 wurde die 1947 seliggesprochene Märtyrin der Reinheit kanonisiert. An einem sommerlichen Samstag wurde die Feier angesichts einer halben Million von Pilgern unter freiem Himmel, auf dem Petersplatz, abgehalten, damals eine ganz ungewöhnliche Neuheit. Die liturgische Feier der Heiligsprechung geschah ohne Messfeier. Die Mutter der Heiligen - 85jährig - konnte, wie bei der Seligsprechung, auch jetzt anwesend sein. Anschließend traf Pius XII. im Vatikan mit ihr zusammen. Wieder hatte sie mit ihren Kindern und Angehörigen eine Audienz, sogar in seinem Studierzimmer. Wir dokumentieren die Ansprache des Hl. Vaters, Pius XII., bei der Seligsprechung am 24.6.1950, und die Homilie des Papstes während des päpstlichen Hochamtes in St. Peter am folgenden Tag (zitiert nach der Übersetzung von Dr. P. Othmar Bauer OSB in L. Novarese, Was Mutter Goretti erzählt, 2. Aufl. Luzern 1951). Die Zwischenüberschriften und Hervorhebungen im Text stammen von uns.

Die poetische Sprache Pius' XII. mag manchem heute etwas ungewohnt erscheinen. Der Sache nach sind die Worte keineswegs veraltet, sondern das, was Pius XII. beklagte, ist von der Entwicklung der Schamlosigkeit, des Hedonismus und der sexuellen Gewalt leider weit übertroffen. Sein Aufruf an die Eltern, ihre Kinder zu verteidigen und von Orten der Verführung fernzuhalten, ist nicht weniger aktuell.

Papst Pius XII. sagte, die (anwesende!) Mutter Assunta habe Maria Goretti "zum Martyrium" erzogen. Johannes Paul II., der ja zum Großen Jubiläumsjahr 2000 das Gedenken der Märtyrer des 20. Jahrhunderts in der ganzen Weltkirche angeregt hat (und Maria Goretti, 1902, gehört dazu!) sagte kürzlich, unserer Zeit fehle es nicht an Menschen, die GOTT zum gewaltsamen Märtyrertod gerufen habe, doch: "viel zahlreicher sind die Gläubigen, die dem Martyrium des Unverständnisses unterworfen sind" - also in der "gefürchteten Außenseiterposition" diskriminiert werden, Ablehnung und Spott erfahren. Mindestens in diesem Sinn brauchen die Glieder der Kirche heute, auch schon die Kinder und Jugendlichen, eine "Erziehung zum Martyrium" - das heißt zum mutigen Bekenntnis in der Gesellschaft - aus der Kraft des Kreuzes CHRISTI.

Die Anziehungskraft der Reinheit

Ansprache von Papst Pius XII. am 24. Juni 1950 zur Heiligsprechung von Maria Goretti

"Nach GOTTES freundlicher Fügung wurde soeben an diesem strahlenden Sommerabend einem einfachen, bescheidenen Kind des Volkes die höchste Ehre der Kirche zuteil, und das mit einer Feierlichkeit ohnegleichen, wie sie noch nie da gewesen ist in der Geschichte der Kirche: hier, in der majestätischen Weite dieses hehren Platzes, im himmelragenden Tempel, dessen Firmament die Herrlichkeit des Allerhöchsten preist! Hier, vor St. Peter, wie ihr es schon lange gewünscht und Wir es angeordnet haben! Hier, wo die Gläubigen in einer Zahl daran teilnehmen konnten, wie sie noch bei keiner Heiligsprechung festgestellt wurde! Hier, wo die kleine, liebenswürdige Märtyrin der Reinheit, Maria Goretti, diese purpurgeschmückte Lilie, die Wir soeben mit innigster Freude ins Album der Heiligen eingetragen haben, ihren bezaubernden Glanz und ihren berauschenden Duft gleichsam am reichsten ausstrahlen und ausströmen konnte!

Warum, geliebte Söhne, seid ihr so überaus zahlreich zur Verherrlichung dieses Mädchens herbeigeeilt? Warum seid ihr zu Tränen gerührt, wenn ihr sein kurzes Leben lest oder hört? Dieses Leben, selbst im unerwarteten, gewaltsamen Tod so schlicht und einfach, so durchsichtig und klar, so lebendig und anschaulich - dass man es mit einer evangelischen Erzählung vergleichen möchte? Warum hat Maria Goretti so schnell eure Herzen erobert, dass sie bereits eure Lieblingsheilige geworden ist, gleichsam der Benjamin unter euren Lieblingen im Himmel? Es muss fürwahr in dieser Welt, die sich doch von Lust und Vergnügen scheinbar mit fortreißen lässt, eine nicht kleine Schar von Auserwählten geben, die sich nach dem Himmel sehnt und in reinerer Luft atmen möchte, ja vielmehr eine große, unermessliche Schar, auf die der himmlische Wohlgeruch christlicher Reinheit einen unwiderstehlichen Zauber und eine vielverheißende und doch beruhigende Anziehungskraft ausübt!

Sieg aller Tugenden

Wenn im Martyrium Maria Gorettis auch unbestritten die Tugend der Reinheit am hellsten strahlte, so feierten in und mit der Reinheit doch auch die andern christlichen Tugenden einen herrlichen Sieg. Der tiefste und bezeichnendste Beweis, dass sich ihre Seele der vollen Herrschaft über das Irdische erfreute, ist der Triumph ihrer Reinheit. Dieser heldenhafte Sieg war keineswegs Sache des Zufalls. Er war vielmehr durch ihre zärtliche und gefügige, folgsame und tätige Liebe zu ihren Eltern angebahnt; durch ihre geradezu evangelisch geübte Armut, die ganz vom Vertrauen auf GOTTES Vorsehung getragen war; durch ihren Glauben vor allem, den sie mit ihrem ganzen Herzen umfing und immer besser kennen lernen wollte, den Glauben, der das Kostbarste in ihrem Leben war und den sie mit der Glut ihres Betens immer mehr nährte; durch ihr brennendes Verlangen nach dem eucharistischen HEILAND und schließlich - als Krönung ihrer Liebe! - durch das heldenhafte Verzeihen gegenüber dem eigenen Mörder! Gleicht diese Tugend nicht dem schlichten, aber GOTT wohlgefälligen Kranz von Feldblumen, wie ihn Maria im weißen Schleier des Erstkommuniontages trug und der dann schon so bald im Purpur ihres Märtyrerblutes prangen sollte?

Kundgebung für die Reinheit

So ist diese erhabene Feier der Heiligsprechung ganz spontan zu einer großen Kundgebung für die heilige Reinheit geworden. Wenn zum Licht jedes Martyriums der dunkle Schatten des verübten Verbrechens befremdend kontrastiert, so erstrahlt das Martyrium Maria Gorettis im Dunkel eines Ärgernisses, das man zu Beginn dieses Jahrhunderts nicht für möglich gehalten hätte. Seit etwa fünfzig Jahren scheint sich die Unsittlichkeit verschworen zu haben - und der Widerstand der Gutgesinnten erweist sich dagegen als ungenügend! -, durch das Buch und die Illustrierte, durch Schauspiele und Hörfolgen, durch Mode, Strandbad und Vereinsleben, inmitten der Gesellschaft und der Familie, das zu untergraben, was einst natürliche Schutzwehr der Tugend gewesen ist. Und das zum großen Schaden der Jugend, besonders der noch unberührten weiblichen Jugend!

Appell an Jugend und Eltern

O Jugend von heute, überaus geliebte Jungmänner und Jungmädchen, ihr alle, die JESUS und Wir mit Ihm wie Unsern Augenstern behüten möchten: sagt, seid ihr fest entschlossen, jedem Angriff auf eure Reinheit mit Hilfe der GÖTTlichen Gnade aufs Bestimmteste entgegenzutreten?

Und ihr, Väter und Mütter, sagt uns angesichts dieses Volkes - vor dem Bild dieses blühenden Mädchens, das mit seiner unversehrten Unschuld eure Herzen erobert hat -, in Gegenwart seiner Mutter, die es zum Martyrium erzogen, seiner Mutter, die seinen Tod nicht beklagte, wenngleich schmerzlich empfand, seiner Mutter, die sich nun gerührt vor ihrem Kinde neigt, um es anzurufen -, sagt, seid ihr bereit, die heilige Pflicht zu übernehmen, eure Buben und Mädchen, soviel an euch liegt, gegen so viele Gefahren, die sie umgeben, wachsam zu behüten und zu verteidigen und sie stets fernzuhalten von den Orten, wo sie zur Gottlosigkeit und sittlichen Verrohung verführt werden?

Und nun, ihr alle, die ihr uns hört: empor die Herzen! Über den ungesunden Sümpfen und dem Schmutz der Welt spannt sich ein unermesslich schöner Himmel! Es ist der Himmel, der die kleine Maria begeisterte! Der Himmel, den sie auf dem Weg erklimmen wollte, der allein zu ihm führt: auf dem Weg des Glaubens, der Liebe zu CHRISTUS, der heroischen Beobachtung Seiner Gebote!

Gebet zur Heiligen

Salve! Sei gegrüßt, du süße, du liebenswürdige Heilige! Du Märtyrin auf Erden, du Engel im Himmel, wende aus des Himmels Herrlichkeit deinen Blick auf dieses Volk, das dich liebt, das dich ehrt, das dich erhebt und verherrlicht! Hellstrahlend trägst du auf der Stirn den siegreichen Namen CHRISTI (Offb 3,12). Kraftvolle Liebe und stete Treue zum GÖTTlichen Bräutigam leuchtet dein jungfräuliches Antlitz. Als "Blutbraut" hast du in dir die Züge deines Bräutigams nachgebildet. So vertrauen Wir dir und deiner mächtigen Fürbitte beim himmlischen Lamme diese Unsere Söhne und Töchter an, alle, die hier zugegen sind, und alle, die mit Uns geistig verbunden sind. Bewundernd blicken sie auf deinen Heldenmut, ja, mehr noch, sie wollen dich nachahmen in deinem Glaubenseifer und in der unverwüstlichen Unbescholtenheit deiner Sitten! Zu dir eilen die Väter und Mütter, damit du ihnen beistehst in ihrer Erziehungsaufgabe. Von Unserer Hand geleitet, findet in dir eine Zuflucht die weibliche Jugend, ja die gesamte Jugend, um so bewahrt zu bleiben vor jeder Befleckung und ihren Lebensweg gehen zu können in der heiteren Freude derer, die reinen Herzens sind. Amen."

Jungfräulichkeit und Martyrium

Predigt von Papst Pius XII. am 25. Juni 1950

""Das jungfräuliche Leben ist eigentlich das Vorrecht der Engel" (Hl. Johannes von Damaskus, Vom rechten Glauben, IV, 24; Migne PG 94,1210). Doch hat das Christentum es auch unter den Menschen zu so erhabener Schönheit empor geführt, dass es die Erde weit unter sich lässt und des Himmels würdig wird. Verbindet sich die Jungfräulichkeit überdies mit der Palme des Martyriums, dann vereinigt sie in sich unberührte Lieblichkeit und Schönheit mit unbesieglicher Kraft; und alle, die sie erblicken, spornt sie zu jenen hohen und heiligen Werken an, die das christliche Sittengesetz fordert. Das alles bewundern Wir im jungfräulichen Mädchen Maria Goretti, das Wir gestern mit der Himmelsherrlichkeit der Heiligen auszeichnen durften.

Die Tugenden Maria Gorettis

Maria stammte von Eltern, die zu den Ärmsten des Volkes gehörten. Um in ehrlicher Arbeit für ihre wachsende Nachkommenschaft das tägliche Brot zu verdienen, waren sie genötigt, ihr Heimatstädtchen (Corinaldo) zu verlassen. So übersiedelten sie an die Küste Latiums, wo sie als Landarbeiter ihren Kindern den dürftigsten Lebensunterhalt zu sichern hofften.

Mit ihrer Herzensunschuld verband Maria eine gewisse Heiterkeit der Seele, und von zartester Jugend an zeigte sie ein Wesen, das durch Sanftmut und Milde gekennzeichnet war. Auch tat sie sich durch Fleiß und unermüdliche Arbeitsamkeit hervor und ging ihrer Mutter bei den häuslichen Arbeiten mit frohmütiger Dienstfertigkeit an die Hand.

Maria besuchte keine Schule, lernte aber von ihrer Mutter die Anfangsgründe der christlichen Wahrheit. Unermüdlich war sie bestrebt, diese ihrem Geist einzuprägen. Keinen Weg machte sie lieber und mit größerem Vergnügen als den Weg zum weitentfernten GOTTEShaus. Sie besuchte es, sooft sie nur konnte. Dort lernte sie die Gebote der katholischen Kirche kennen. Dort durfte sie vor dem Altar mit GOTT reden und der allerseligsten Jungfrau Maria ihr Herz ausschütten. Als ihr Wunsch, an den Tisch des HERRN zu treten, endlich in Erfüllung ging und sie sich mit dem Himmelsbrote nähren durfte, da tat sie es mit so großer Frömmigkeit und glühender Liebe, dass man sie lieber für einen Engel im Fleische als für ein gewöhnliches Menschenkind gehalten hätte. Aus dieser Quelle - der heiligen Eucharistie - schöpfte Maria zweifellos auch die Kraft, schon wenige Monate später, noch nicht zwölfjährig, bis aufs Blut zu widerstehen, als es galt, ihre lilienweiße Unschuld unberührt und unversehrt zu bewahren und sie, mit dem Purpur des Martyriums geschmückt, dem HERRN und HEILAND ihrer jungfräulichen Liebe zurückzugeben.

In der Kraft der Gnade

Dann hatte dieses wehrlose Mädchen, wie wir alle wissen, seinen heißen, harten Kampf zu bestehen. Ein wild und blind wütender Sturm brach plötzlich über es herein und suchte seine engelgleiche Reinheit in Schmach und Schande zu stürzen. Aber in der Stunde der schwersten Not konnte Maria ihrem GÖTTlichen Bräutigam jene Worte aus dem goldenen Büchlein der "Nachfolge CHRISTI' wiederholen: "Werde ich auch versucht und durch viele Trübsale geplagt, ich werde nichts Schlimmes befürchten, wenn nur Deine Gnade mit mir ist! Sie ist meine Kraft, sie bringt mir Rat und Hilfe, sie ist mächtiger als alle meine Feinde" (III, 55, 5). So hat denn die Heilige mit dem Beistand von oben, dem ihr Wille großherzig und tapfer entsprach, zwar ihr Blut, nicht aber ihre jungfräuliche Reinheit zum Opfer gebracht.

Aus dem Leben Maria Gorettis lernen

Das Leben dieses schlichten Kindes, das Wir soeben in wenigen Strichen gezeichnet haben, bietet ein so erhebendes Schauspiel, dass es nicht bloß die Anerkennung des Himmels, sondern auch die volle Bewunderung und Verehrung der Zeitgenossen verdient. Lernen mögen daraus die Väter und Mütter, wie man in der christlichen Familie die von GOTT geschenkten Kinder mit Frömmigkeit und festem Sinn zum Guten erziehen und ihr Leben mit GOTTES Geboten in Einklang bringen soll, damit sie, wenn ihre Tugend auf die Probe gestellt wird, mit GOTTES Gnadenhilfe unbesiegt, unversehrt und unberührt aus dem Kampf hervorgehen!

Lernen mögen daraus schon die sorglos fröhlichen Kinder, lernen vor allem die heranwachsenden Jungmänner und Jungmädchen, wie sie der flüchtigen Lust und dem eitlen Vergnügen entgehen und den Genüssen bestrickender Leidenschaft nicht ohnmächtig verfallen! Denn leidenschaftliche Lust tötet die heitere Unschuld, hat bittere Traurigkeit in ihrem Gefolge und lässt früher oder später Leib und Seele erschlaffen. Lernen mögen sie vielmehr das frohe Gehen zu GOTT, und wär's auch durch harten, heißen Kampf! Lernen mögen sie, aufzusteigen zu vollkommenem christlichem Lebenswandel, wohin wir alle gelangen können, wenn wir mit ungebrochenem Willen, gestützt auf die Gnade des Himmels, keine Mühe und Anstrengung scheuen und im Gebet unsere Kräfte erneuern.

Alle sind wir zur Tugend berufen

Lernen möge endlich die verweichlichte Welt, die allzu oft zum Bösen neigt, die unbesiegte Kraft dieses jungfräulichen Mädchens zu verehren und nachzuahmen! Mögen alle sie sehen, diese Lilie des Feldes, die so herrlichen Wohlduft verbreitet! Mögen alle sie sehen, diese leuchtende Siegespalme des Martyriums, und daran erkennen, was christliche Moral in der Führung und Formung des Menschen vermag! Erkennen, wie sehr die edlen Freuden, gewonnen aus unversehrt bewahrter Unschuld des Lebens und zäh erworbener Tugend, die eitlen Freuden dieser Welt und ihre niederen Genüsse überragen und überstrahlen! Kann doch nur GOTT allein die Seelen der Sterblichen befrieden und beruhigen und ihr unendliches Sehnen erfüllen.

Gewiss, nicht alle sind wir berufen, das blutige Martyrium zu bestehen. Alle aber sind wir berufen, die christliche Tugend zu erringen. Tugend aber erfordert Gewalt, die selbst dann, wenn sie die heroische Höhe dieses engelgleichen Kindes nicht erreicht, von uns bis zuletzt ein dauerndes, sorgfältiges, unentwegtes Bemühen erheischt. Wo immer das geschieht, da ist das Christenleben gleichsam ein dauerndes, fortgesetztes Martyrium. Zu solchem Martyrium ermuntert uns JESUS CHRISTUS selbst mit den Worten: "Das Himmelreich leidet Gewalt, und nur die Gewalt brauchen, reißen es an sich" (Mt 11,12).

So lasst uns denn mit Hilfe der Gnade das Himmelreich an uns reißen! Das Beispiel der Jungfrau und Märtyrin Maria Goretti möge uns dazu begeistern! Und am himmlischen Thron, wo sie die ewige Seligkeit genießt, möge sie vom GÖTTlichen HEILAND fürbittend erlangen, dass wir alle, jeder entsprechend seinen Möglichkeiten, mit Freude, Bereitschaft und persönlichem Einsatz in ihre gesegneten Fußstapfen treten! Amen."

[Fotonachweis: Archiv Freundeskreis Maria Goretti e. V., Urheberrecht unbekannt]